Eine Studie von IW Consult und Fraunhofer IAO sorgt gegenwärtig für Widerspruch bei Brancheninsidern der ostdeutschen Automobilwirtschaft. Ziel der vom Bundeswirtschaftsministerium beauftragten Analyse war es, die regionalen Ausprägungen des automobilen Strukturwandels in Deutschland detailliert zu untersuchen. Ostdeutsche Standorte spielen dabei nur eine Nebenrolle, so die Kritik.
Beschäftigungsrisiken werden wegnivelliert
Von einem „gefährlichen Irrweg“ spricht Prof. Dr. Werner Olle, Direktoriumsmitglied des Chemnitz Automotive Institute CATI, in einem Interview mit dem Automotive Cluster Ostdeutschland ACOD. Für ihn greift die Vorgehensweise der Studie zu kurz. Nur wenn eine sogenannte „Wesentlichkeitsschwelle“ im Verhältnis der in der Automobilwirtschaft Beschäftigten zu den Gesamtbeschäftigten überschritten wird, sprechen die Autoren von einer strukturprägenden Bedeutung oder aber eher geringen Relevanz der Branche für die jeweilige Region.
Diese Betrachtungsweise führt dann dazu, dass es bei den 118 ermittelten Regionen mit überdurchschnittlich hoher Bedeutung der Automobilwirtschaft Leipzig gerade mal auf Platz 99 geschafft hat – punktgleich mit dem thüringischen Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Bei den 40 besonders vom Strukturwandel betroffenen Regionen ist Chemnitz trotz einer bekanntermaßen hohen Bedeutung konventioneller Antriebstechnologien durch das Bewertungsraster gefallen und in dieser Liste nicht vertreten. „Letztendlich werden Beschäftigungsrisiken im Antriebsbereich in diesen und anderen betroffenen Regionen wegnivelliert mit dem statistischen Verweis auf die Gesamtbeschäftigung einer Region. Wir halten dies für eine Bagatellisierung von regionalen Strukturrisiken“, so Prof. Olle.
Fatale Botschaft zu Ostdeutschland
Bei den in der Studie aufgeführten 34 Standorten mit guter Positionierung in den Zukunftsfeldern Elektrifizierung, Automatisierung und Vernetzung ist Ostdeutschland nur mit einem Standort vertreten – dem Landkreis Bautzen, der dieses Privileg der Batteriefertigung von Daimler in Kamenz und einem strukturschwachen Umfeld verdankt. Zwickau mit dem zurzeit größten Werk in Europa zur Fertigung von batterieelektrischen Fahrzeugen oder Dresden mit seinen TOP-Unternehmen im Halbleiter-Bereich, die zum beträchtlichen Teil für Mobilitätsanwendungen fertigen, finden keine Erwähnung. „Bis hierher lautet die Botschaft der Studie daher: Ostdeutsche Standorte zählen kaum zu den automobilen Top-Regionen. Sind kaum vom automobilen Strukturwandel betroffen und auch in den automobilen Zukunftsfeldern so gut wie nicht vertreten. Irgendwie das alte Lied von den verlängerten Werkbänken im Osten, mit dem nicht die automobile Leistungsfähigkeit und Attraktivität erklärt werden kann, die in dieser Region über Jahre entstanden ist und diese zu einem Top-Player bei der Elektromobilität in Europa machen wird. Lediglich verbal wird an mehreren Stellen darauf verwiesen, dass sich für ostdeutsche Standorte die Präsenz in Zukunftsfeldern in naher Zukunft durch entsprechende Neuinvestitionen, insbesondere bei der Fertigung von Batteriezellen, positiv entwickeln könnte“, betont Prof. Olle im ACOD-Interview.
Studie vorbei an der Realität
Neben dem Autoland Sachsen hat sich Thüringen zu einem starken Automotive-Standort entwickelt. Rico Chmelik, Geschäftsführer des Branchennetzwerks automotive thüringen e. V., findet, dass die in der Studie behaupteten Auswirkungen auf die Automobilindustrie in seinem Bundesland an der Thüringer Realität vorbeigehen. „Als Vertreter eines Automobil-Netzwerks, der in der ganzen Region unterwegs ist und täglich Gespräche mit Unternehmern führt, kann ich nur sagen: Thüringen ist anders. Ärgerlich ist auch, dass es zwar Gespräche mit den Autoren der Studie gab und wir auch Daten geliefert haben (übrigens kostenfrei) – wir aber scheinbar nicht mit unseren Argumenten durchdringen konnten, weil man die Grundmethodik der Studie nicht in Frage stellen wollte, auf die man sich einmal eingeschossen hat.“ Auch zu den aufgezeigten Zukunftsprognosen gibt es von Rico Chmelik ein klares Nein. Zwar werde in der Studie auf die geplante Batteriezellfertigung von CATL am Erfurter Kreuz verwiesen und versteckt auf Paragon Suhl mit Sensorik- und Elektronikprodukten, doch Thüringen biete viel mehr, u. a. entwickele sich ein neuer Wertschöpfungskern in der Elektromobilität, u. a. mit Bosch, Marquardt und Nidec. Ebenso spielen Optik- und Photonik-Kompetenzen sowie die Leistungsfähigkeit für das Interieur der Zukunft eine große Rolle.
Für Analysen zum automobilen Strukturwandel sei es essenziell, dass die Verknüpfung von sektoralen und regionalen Umgewichtungen im Detail untersucht werde, so Chmelik. Ein solches Strukturprofil sowie Gespräche mit Betroffenen bilden die Basis, um ausreichend Bodenhaftung bei ermittelten Trendaussagen zu gewährleisten.
Das vollständige Interview gibt es hier.
Aktuelle Entwicklungen der Thüringer Automotive-Branche sind nachzulesen im jüngsten Branchenreport.