Ein Manko der ostdeutschen und damit auch der sächsischen Industrie ist, dass hier kaum Konzernzentralen ansässig sind und strategische Entscheidungen anderswo getroffen werden. Nicht so bei Prof. Dr.-Ing. E.h. Hans J. Naumann und der NILES-SIMMONS-HEGENSCHEIDT-Gruppe (NSH). Das Steuerrad im Chemnitzer Chefbüro zeigt: Von hier aus wird der Werkzeugmaschinenbau-Konzern mit Produktionsunternehmen in Deutschland, den USA und China sowie Verkaufs- und Servicegesellschaften rund um den Erdball gelenkt. Sozusagen an der Wiege der Branche, denn in Chemnitz und der Region hat der deutsche Werkzeugmaschinenbau seinen Ursprung.
Die Tradition des Standortes war ein Grund für die 2001 erfolgte Ansiedlung des Holding-Sitzes in Sachsen. „Dazu kommt, dass die Menschen hier nach der Wende ihren Pioniergeist neu entfacht haben und wir sehr gute Bedingungen für Produkt- und Technologieentwicklungen vorfinden. Die Technische Universität Chemnitz und das Fraunhofer IWU tragen viel Know-how dazu bei. Von hier aus waren auch die internationalen Aktivitäten besser aufzubauen. Und nicht zuletzt wollten wir ein psychologisches Zeichen setzen, dass NSH eine sächsische Unternehmensgruppe ist und sich Chemnitz mit weiteren Traditions-Unternehmen wie Heckert und Union wieder zu einer Hochburg des Werkzeugmaschinenbaus entwickelt hat“, betont Prof. Naumann.
Der Unternehmer mit US-amerikanischem Pass, dem man nicht ansieht, dass er 2015 seinen 80. Geburtstag begeht, ist außerdem selbst gebürtiger Sachse. Auf dem Rittergut Zschorna verbrachte er seine Kindheit, bevor die Familie nach Kriegsende, Enteignung und Internierung nach Hamburg ging. Dort lernte und studierte er Maschinenbau und übersiedelte 1960 in die USA. Bei FARREL arbeitete er sich ins technische Management hoch bis zum Division Engineer für den Getriebebereich. Gleichzeitig erhielt er ein Master of Business Administration (MBA) der Universität Rochester, N.Y. 1966 startete der Ingenieur in seine erste Selbstständigkeit mit dem Aufbau der HEGENSCHEIDT CORPORATION in den USA und der damit verbundenen Einführung einer völlig neuen Technologie – dem Fest- und Glattwalzen. Geholfen haben ihm dabei unbewusst die damaligen Fahrer von Sportwagen wie Ford Mustang oder Pontiac Firebird. „Etliche von ihnen modifizierten ihre Fahrzeuge mit breiten Reifen. Das führte aber zu Brüchen der Vorderachsschenkel. Das Festwalzen bot hier eine schnelle Lösung und so verkaufte ich die ersten Maschinen“, erinnert sich Prof. Naumann. Die Technologie gehört nach wie vor zum Programm von NSH. Ab 1990 wurden die Verfahren Fest- und Richtwalzen in einer Maschine kombiniert. Mit der Integration moderner Messtechnik hat die Technologie höchste Effizienz und Prozesssicherheit erreicht und bewährt sich in der Kurbelwellenfertigung bei namhaften Pkw- und Lkw-Herstellern weltweit.
Als Miteigner von HEGENSCHEIDT wurde Hans J. Naumann 1970 gebeten, das Unternehmen in Deutschland zu leiten. In den folgenden zehn Jahren gelang es ihm, die Firma als Hersteller von Eisenbahn-Radsatz-Bearbeitungsmaschinen international zu etablieren. Wieder zurück in den USA erwarb er die SIMMONS MACHINE TOOL CORPORATION, zu der NILES gehörte. Später integrierte er unter dem SIMMONS-Dach auch seinen ehemaligen Arbeitgeber FARREL sowie die Firma STANRAY. Damit war ein Unternehmen entstanden, das als einziges in Nordamerika Maschinen zur Reparatur und Herstellung von Eisenbahn-Radsätzen fertigte.
Entdeckung auf der EMO
Hans J. Naumann wusste, dass es noch einen NILES-Standort in Berlin gab. Mit dem Fall der Mauer bot sich die Chance, das Werk in Augenschein zu nehmen. Er fuhr 1990 nach Ost-Berlin, fand aber den Betrieb nicht für eine Übernahme geeignet. Dafür entdeckte er auf der EMO 1991 in Paris einen Stand mit dem NILES-Logo und der Firmierung NILES Drehmaschinen GmbH Chemnitz. Er besuchte das Treuhand-Unternehmen in Sachsen, dessen Altwerk in keinem guten Zustand war. Daneben gab es aber eine neu gebaute und moderne Fabrik mit Krananlagen, Büros und Lagerflächen. „Eine leere Hülle, die sich aber für eine moderne Fertigung anbot“, so Naumann’s Eindruck. Diese bauliche Voraussetzung sowie das Wissen um die guten Fachkräfte in der Region veranlassten ihn, Verhandlungen mit der Treuhand aufzunehmen. Die Bedingungen waren hart. Der Kaufpreis betrug 15 Millionen DM. 250 Mitarbeiter waren für mindestens zwei Jahre zu übernehmen. Außerdem wurden eine Investitionsverpflichtung in Höhe von zehn Millionen DM, der Nachweis eines Bankkredits von 15 Millionen DM sowie die Übernahme eines Auftrages aus Russland ins Vertragswerk geschrieben. Prof. Naumann hat alle Bedingungen erfüllt und am 5. Mai 1992 die NILES Drehmaschinen GmbH in die NILES-SIMMONS Industrieanlagen GmbH
Chemnitz umgewandelt.
Der Russland-Auftrag war der Hoffnungsanker jener Zeit. 96 Maschinen der alten N-Baureihen sollten im Zeitraum eines Jahres gefertigt werden und damit eine wesentliche finanzielle Basis für den Neuanfang bilden. Gleichzeitig standen die Neukonstruktion der N-Baureihe nach Marktanforderungen, der Umzug in die neue Fabrik sowie die generelle Neuorganisation des Unternehmens auf der Tagesordnung. Mitten hinein in die immense Aufbauarbeit platzte die Stornierung des Großauftrags durch den russischen Kunden. „Wir waren gezwungen, die alten Ostprodukte im Westen zu verkaufen, ein fast unmögliches Unterfangen, das aber dank des Einsatz von Geschäftsführer Schmidt-Staubach und Verkaufsleiter Rietschel gelang, auch wenn wir preislich bluten mussten“, blickt Prof. Naumann zurück. Erschwerend kam hinzu, dass zwischen 1992 und 1994 eine generelle Absatzkrise herrschte. Dennoch konnte NILES-SIMMONS zur EMO 1993 die neuentwickelten Drehzentren präsentierten, die u. a. für die Nockenwellenbearbeitung konzipiert waren. Auch ein völlig neues Produkt für die Radsatzbearbeitung gehörte dazu, das Naumann von Albany nach Chemnitz holte und hier neu konstruieren ließ. Es war in erster Linie geeignet für Straßenbahnen und leichte Schienenfahrzeuge. Die erste Maschine wurde an den Nahverkehrsbetrieb der Stadt Chemnitz verkauft.
Trotz anfänglicher Erfolge waren die Jahre bis 1997 von Verlusten geprägt. „Wir brauchten oft eine Zwischenfinanzierung. Die Bank half hier in Person des Direktors der Commerzbankzentrale Dresden, zuständig für Sachsen, Wilhelm von Carlowitz unbürokratisch und schnell. Aus Dankbarkeit habe ich das Denkmal für Hans von Carlowitz an der Burg Rabenstein gesponsert, dem Vorfahren meines Bankerfreundes und Erfinder des Nachhaltigkeits-Prinzips“, erklärt Hans J. Naumann. Der Amerikaner mit sächsischen Wurzeln hat auch in den schwie-rigen Jahren immer an die positive Entwicklung des Unternehmens geglaubt: „Ich war zuversichtlich, dass unser Werk gelingen wird. Schließlich hatte ich schon zwei Unternehmen aufgebaut und entsprechende Erfahrungen darin. Auch haben wir viel im Marketing getan, sind auf jede sich bietende Messe gegangen, haben uns auf Tagungen und weiteren Veranstaltungen durch Vorträge bekannt gemacht.“
Die „Person im Spiegel“
Wesentliche Umstellungen mussten in dieser Zeit auch in den Köpfen der Mitarbeiter erfolgen. „Fachlich und von der Einsatzbereitschaft her gab es nichts auszusetzen, aber ihnen musste die Angst vor Eigeninitiative genommen werden. Deshalb erzählte ich ihnen, dass es jemanden gibt, der alles für sie tut und den sie nur ansprechen müssen. Ich sagte ihnen auch, wie sie denjenigen finden. Sie müssen nur morgens in den Spiegel schauen, dann sehen sie den, der alles für sie tut. Wenn der aktiv ist, dann geht es ihnen gut. Damit war die ‚Person im Spiegel‘ geschaffen sowie Mut zu selbstständigem Entscheiden und Handeln“, beschreibt Prof. Naumann ein Beispiel, wie er Wandel in den Köpfen erzeugte.
Ein großer Wandel vollzog sich auch in der Produktpalette. Rund 100 Millionen Euro flossen in neue Entwicklungen. „Davon hat die öffentliche Hand etwa ein Drittel finanziert. Dank dieser Unterstützung konnten wir die Produkterneuerung so vorantreiben, dass wir auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wurden. Gegen die Industrie im Werkzeugmaschinenbau West haben wir eine Multiproduktstruktur für fünf Branchen aufgebaut“, betont Prof. Naumann. Die hochpräzisen und effizienten Werkzeugmaschinen und Bearbeitungszentren der NSH-Gruppe bewähren sich in der Luft- und Raumfahrtindustrie, im Pkw- und Lkw-Bau, in der Eisenbahn- und Metroindustrie, im Werkzeug- und Formenbau sowie im allgemeinen Maschinenbau.
NILES-SIMMONS plant und realisiert darüber hinaus komplette Fertigungsanlagen u. a. zur Produktion von Powertrain-Komponenten als schlüsselfertige „Turnkey“-Lösungen für den Anwender. Die Projekte, die beispielsweise für VW Salzgitter, für Feuer Powertrain, für das Traktorenwerk Minsk sowie für russische und chinesische Kunden in der Bahnindustrie realisiert wurden, sind in Größenordnungen ab 30 Millionen Euro aufwärts angesiedelt. Jüngst hat das Chemnitzer Unternehmen eine schlüsselfertige Kurbelwellenlinie für das chinesische Joint Venture BBAC Beijing Benz Automotive Corp. Ltd. der Daimler AG übergeben, mit dem der deutsche Premiumhersteller die Motorenfertigung in China lokalisiert. Für die schnelle Umsetzung dieser komplexen Aufgabe und das rasche Erreichen der vollen Fertigungskapazität erhielt der Turnkey-Spezialist NILES im Juni 2014 die Auszeichnung als „Outstanding Supplier“. „Das ist für uns eine große Ehre, zumal von den ausgezeichneten Lieferanten, welche größtenteils First Tiers für die Fahrzeugfertigung waren, nur zwei ausländische Unternehmen geehrt wurden. Außerdem hat uns diese Referenz sofort das zweite Projekt beschert“, freut sich Prof. Naumann.
Auf das Potenzial der Region gesetzt
Für die Erschließung neuer Märkte hat NILES-SIMMONS auf das Potenzial der Region gesetzt. Im 1998 gegründeten Kompetenzzentrum Maschinenbau Chemnitz/Sachsen e. V. (KMC) bündeln Unternehmen, Forschungseinrichtungen und weitere Institutionen ihre Kräfte für technologische Komplettlösungen, kostengünstige, durchgängige Prozessketten sowie gemeinsame Marktauftritte. „Das KMC war für die Industrie der Region das Sprungbrett für den internationalen Verkauf, vor allem in Richtung Russland“, betont Prof. Naumann, heute Präsident des KMC. Die NSH-Gruppe hat von Chemnitz aus die Geschäftsaktivitäten mit Russland forciert und beispielsweise mit ihren Innovationen in der Bahntechnik Werkstätten im ganzen Land ausgerüstet.
Prof. Naumann ist stolz auf die Erfolge der gesamten Gruppe und vor allem auf das in seiner sächsischen Geburtsregion Erreichte. „Natürlich wollen wir zuerst gute Produkte entwickeln und verkaufen. Aber wir wollen auch ein gutes Arbeitsumfeld schaffen und ausstrahlen auf die Region“, sagt er. Deshalb wird zum Beispiel die Belegschaft am Erfolg der Arbeit beteiligt. 15 Prozent des Ergebnisses geht an sie, gleichberechtigt aufgeteilt vom Geschäftsführer bis zum Werkstattarbeiter. Jährlich etwa eine halbe Million Euro fließt in soziales Engagement für Chemnitz. NILES-SIMMONS hilft Einrichtungen, in denen kranke Kinder betreut werden, unterstützt den künftigen Berufsnachwuchs an Schulen und an der Technischen Universität, sponsert das kulturelle und sportliche Leben. Für Prof. Naumann sind solche Aktivitäten ein fester Bestandteil von Unternehmertum. „Man darf sich nicht nur an eigenen Erfolgen erfreuen, sondern hat die Verpflichtung, über den Tellerrand zu schauen und anderen zu helfen, ihr Leben zu verbessern.“
Aus dieser Haltung heraus hat er die Gründung des Industrievereins Sachsen 1828 e. V. im Jahr 2000 mit unterstützt. Er versteht sich in der Tradition des „Industrievereins für das Königreich Sachsen“ von 1828. Dieser bewirkte den damals dringend notwendigen Eisenbahnanschluss von Chemnitz und regte die Gründung der Königlichen Gewerbschule als Vorläufer der Technischen Universität Chemnitz an. Die Vernetzung der Mitglieder zur Stärkung des sächsischen Wirtschaftsstandortes, die Sicherung des technischen und unternehmerischen Nachwuchses sowie die Absicherung einer modernen Infrastruktur sind heute wesentliche Ziele. Auch wird wieder um eine zeitgemäße Bahnanbindung gekämpft – den ICE-Anschluss für Chemnitz.
Mittel kann man nur verteilen, wenn man sie vorher erarbeitet hat. Prof. Naumann sieht in Deutschland gute Bedingungen, die Potenziale des Werkzeugmaschinenbaus weiter auszureizen. „Wir sind in der Lage, innerhalb unserer Grenzen alle notwendigen Komponenten selbst herzustellen. Das kann in diesem Rahmen nur noch Japan. Die USA schaffen es nicht mehr, China versucht es“, zeigt er die Wettbewerbssituation auf. In Deutschland kommen auf einen Mitarbeiter beim Finalproduzenten des Werkzeugmaschinenbaus drei in der Zulieferindustrie. „Ein Beschäftigungseffekt, den sonst kein anderer Industriezweig schafft“, so der NSH-Chef.
Der Kurs Zukunft ist klar bestimmt
In Zukunft sei das wichtig, was auch in der Vergangenheit schon zum Erfolg geführt habe: „Wir müssen laufend auf der Suche nach neuen Technologien sein, zum Beispiel die Kurbelwellenfertigung von zwölf auf sechs Prozessschritte verkürzen, das Schleifen eliminieren und nur noch Trockenbearbeitung ermög-lichen. Veränderungen voraussehen und mit den technologischen Lösungen bereitstehen, wenn der Kunde sie braucht, das ist das A und O. So werden wir verstärkt in Verzahnungstechnologien gehen, denn die Elektromobilität lebt von Schaltvorgängen, braucht Zahnräder und die müssen effizient gefertigt werden.“ Außerdem werde NSH weiter nach Firmen Ausschau halten, welche die Konzernaktivitäten sinnvoll ergänzen, um noch größere Marktanteile abzudecken.
Der Kurs Zukunft ist klar bestimmt. Das Steuerrad teilt Prof. Naumann schon mit seinem Sohn John, der dabei ist, den Werkzeugmaschinenbau-Konzern Schritt für Schritt zu übernehmen. An seiner Seite hat er fähige Führungscrews und Mannschaften in jedem einzelnen Unternehmen.
Die NSH-Gruppe
Die NILES-SIMMONS-HEGENSCHEIDT-Gruppe gehört zu den zehn größten Werkzeugmaschinenherstellern Deutschlands und den 35 größten der Welt. Neben der Entwicklung und Fertigung am Hauptsitz im sächsischen Chemnitz hat die Gruppe Produktionsunternehmen in Erkelenz/Nordrhein-Westfalen, Glauchau/Sachsen, Albany/USA, Sterling Heights/USA sowie Nanchang/China. Vertriebs- und Servicebüros unterhält die Gruppe auf allen Kontinenten. Die rund 1300 Mitarbeiter, davon ca. 300 am Hauptsitz, entwickeln und produzieren Maschinen und Bearbeitungssysteme für die Pkw- und Lkw-Produktion, die Eisenbahn- und Metroindustrie, die Luft- und Raumfahrt, den Werkzeug- und Formenbau sowie den allgemeinen Maschinenbau. Weltweit führend ist NSH u. a. bei Technik und Technologie im Schienenfahrzeugbereich für die Radsatzbearbeitung, für Radsatz-Diagnosesysteme und Leichtmetall-Aufgleissysteme. Im Automotive-Bereich besitzt die Gruppe umfangreiche technologische Kompetenzen für die Kurbelwellenbearbeitung.
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25 Jahre dynamische Wirtschafts- und Wissenschaftsentwicklung informierend, inspirierend und unterhaltend aufgezeigt in persölichen Geschichten.
Autorin: Ina Reichel | Seiten: 275 | Ersterscheinung: 2014
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