Wegen des Arbeitskräftemangels sind sächsische Betriebe zunehmend auf ausländische Beschäftigte angewiesen. Damit diese Menschen ankommen und bleiben, braucht es eine echte Willkommens- und Bleibe-Kultur. Wie es darum aktuell bestellt ist, erfuhr Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig kürzlich bei Unternehmensbesuchen.
Fokussierte Auswanderin aus dem Iran
Was andere Firmen noch vor sich haben, ist beim Automobilzulieferer Linamar und beim Softwareentwickler FDTech längst Realität. Hier arbeiten Teams aus teilweise mehr als 20 Nationen zusammen. Die 42-jährige Atefeh Esfandyari kommt aus dem Iran. Sie hat in ihrem Heimatland ein Ingenieurstudium absolviert und 15 Jahre in der Industrie gearbeitet. Vor etwa zwei Jahren entschied sie sich, nach Deutschland auszuwandern, „einem guten Land für Ingenieure“, wie sie betont. Sie lernte ein Jahr lang im Iran sehr fokussiert deutsch. Über ein Stellenportal im Internet fand sie ein Angebot von Linamar Crimmitschau. Das sagte ihr zu. Sie bewarb sich und bekam schnell eine Blaue Karte. Diesen Aufenthaltstitel erhalten Angehörige von Nicht-EU-Staaten für eine Erwerbstätigkeit in einem EU-Staat. Seit Juni 2022 arbeitet Atefeh Esfandyari als Qualitätsingenieurin beim Hersteller von Antriebstechnik in Crimmitschau und hat sich gut eingelebt.
Gaurang Patel aus Indien kam über ein Masterstudium an der TU Chemnitz nach Deutschland. Nach einem Zeitarbeitsjob bei Linamar hat er jetzt eine Direktanstellung als Fertigungsingenieur beim Automobilzulieferer erhalten. Zakaria Raffali aus Marokko fand über die Website der Bundesagentur für Arbeit einen Ausbildungsplatz als Mechatroniker bei Linamar. Der 24-Jährige ist seit knapp zwei Jahren hier.
Das Ankommen so einfach wie möglich gestalten
Ganz anders verlief der Weg von Zia Sahel. Der heute 23-Jährige kam 2016 als minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland. Seine erste Station war das Kinderheim Crimmitschau. Er erwarb einen Schulabschluss, lernte in einem halben Jahr deutsch und absolvierte Schülerpraktika bei Linamar. Hier realisierte er auch seine Ausbildung und arbeitet jetzt in der Qualitätssicherung. Dennoch war es für ihn schwierig, einen Aufenthaltsstatus zu bekommen. Das Unternehmen hat sich hier eingeschaltet. Man stolpere generell über viel Bürokratie bei den Integrationsprozessen, sagt Werkleiter Enrico Held.
Wer in Deutschland ankommt, hat meist noch keine feste Wohnadresse. Doch ohne diese lässt sich kein Konto eröffnen, ohne Bankverbindung wiederum gibt es z. B. keine SIM-Karte fürs Handy. Hier drehe man sich im Kreis. „Wir müssen das Ankommen so einfach wie möglich gestalten“, gab der Werkleiter dem Minister mit auf den Weg. Eine Hürde ist ebenso, dass Deutschlehrer fehlen, um die Sprache schnell zu vermitteln. Jedoch müssen wir Deutschen uns auch an die Nase fassen und viel mehr und besser auf Englisch kommunizieren, so Enrico Held.
Interesse an Integration ausländischer Fachkräfte wächst
Der kanadische Automobilzulieferer Linamar gehört zu den großen Arbeitgebern in Sachsen. In Crimmitschau und Reinsdorf beschäftigt der Hersteller von Systemen und Komponenten für Mobilität und erneuerbare Energien rund 1.500 Menschen aus mehr als 20 Nationen. Seit 2016 befinden sich Jugendliche aus Europa, u.a. aus Spanien, Polen, Kroatien und Griechenland, in Berufsausbildung zu Zerspanungsmechanikern oder Mechatronikern. In den vergangenen zwei Jahren sind auch marokkanische und vietnamesische Auszubildende hinzugekommen. Laut Enrico Held kommt das Thema auch bei kleineren Unternehmen in der Region an. Die Nachfragen, wie man ausländische Arbeitskräfte gewinnt und integriert, nehmen zu, konstatiert er. Neben den Erfahrungen direkt aus dem Unternehmen verweist Enrico Held auf Unterstützungen durch Netzwerke und Organisationen. Gute Adressen sind u. a. das Zentrum für Fachkräftesicherung ZEFAS, das Transformations-Projekt ITAS und das Zuliefernetzwerk AMZ. Diese und weitere Organisationen stehen der sächsischen Wirtschaft beim Thema Auslandsrekruting zur Seite.
FDTech: Beschäftigte aus 16 Nationen
Viel Erfahrung mit internationalen Teams besitzt auch FDTech in Chemnitz. Der Entwickler im Bereich assistiertes und automatisiertes Fahren beschäftigt aktuell 175 Personen aus 16 Nationen, die überwiegend in Englisch kommunizieren. Sie haben jedoch auch feste „Deutsch-Sprech-Tage“ in den Arbeitsalltag integriert.
Zermürbende Unsicherheiten
Zu den für einen Ingenieurbetrieb überdurchschnittlichen 15 Prozent Frauenbei FDTech gehört die 33-jährige Saba Abdollahi aus dem Iran. Sie lebt seit elf Jahren in Deutschland, hat in Chemnitz Elektrotechnik studiert und sich ihr Leben hier aufgebaut. Seit den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz 2018 fühlt sie sich jedoch zunehmend unsicherer in der Stadt und meidet öffentliche Verkehrsmittel. Auch beklagt Saba Abdollahi mitunter widersprüchliche Entscheidungen bei der Vergabe von Visa. Aktuell scheitere der Versuch, ihre Eltern einzuladen, an einem Termin zur Beantragung eines Besuchervisums in der deutschen Botschaft.
Werksstudentin Salna Binsiln aus dem Jemen sowie Ingenieur Ary Frigeri aus Brasilien berichten über massive Probleme bei der Kommunikation mit der Ausländerbehörde. Monatelang erhalte man keine Antwort zum Stand der jeweiligen Visaangelegenheiten. Diese Unsicherheiten zermürben. Bei Ary kommt hinzu, dass sein in Portugal erworbener Bachelor nochmals gesondert anerkannt werden musste. Für FDTech-Geschäftsführer Karsten Schulze ein Unding angesichts des Bologna-Prozesses, der doch für Transparenz und Vergleichbarkeit der europäischen Hochschulabschlüsse steht.
Integration keine Frage des Passes
Integration ist bei FDTech keine Frage des Passes. „Wir wollen für jede und jeden eine sinnstiftende Arbeit und Arbeitsumgebung, trennen nicht in in- sowie ausländische Mitarbeiter. Wir sehen uns als WIR-Gesellschaft“, betont der Geschäftsführer. Diese müsse auch über die Unternehmensgrenzen hinaus entstehen, daran müssen alle arbeiten – In- wie Ausländer.
Plädoyer für zentrale Ausländerbehörde
Für Sachsens Wirtschaftsminister ist nach diesen sowie weiteren Unternehmensbesuchen klar, dass es einen Kulturwandel braucht. Sachsen sei auf Zuwanderung angewiesen, um seinen Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Dabei gehe es um Menschen mit eigenen Bedürfnissen, denen das Leben erleichtert werden müsse. Das sei nicht nur eine Aufgabe für die Unternehmen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Einen „Wandel um 180 Grad“ sieht der SPD-Politiker bei vielen Behörden vonnöten. Überlegt werden müsse etwa, ob eine zentrale Ausländerbehörde für Sachsen den Anforderungen besser gerecht werden könne als die jetzige kommunale Struktur.
Die Zahl der ausländischen Beschäftigten in Sachsen hat sich seit 2015 fast verdreifacht. Nach Angaben des statistischen Landesamtes verfügen 118.041 Beschäftigte über eine ausländische Staatsangehörigkeit, das sind 7,2 Prozent aller Beschäftigten (Stand 30. Juni 2023). Mit 26.770 Personen besaßen zur Jahresmitte 2022 die meisten der in Sachsen beschäftigten Ausländerinnen und Ausländer die polnische Staatsangehörigkeit. Es folgten Tschechien (14.713 Personen), Rumänien (6.863 Personen), Syrien (6.027 Personen) und die Ukraine (4.313 Personen).
Bundesweit ist der Anteil ausländischer Beschäftigter etwa doppelt so hoch. Den Angaben zufolge fehlen in Sachsen bis 2030 etwa 176.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter, weil mehr Beschäftigte in den Ruhestand gehen als Junge ins Arbeitsleben starten.