Die Autoindustrie wird in den nächsten zehn Jahren mehr Umbrüche erleben als in ihrer gesamten bisherigen Geschichte. So lautete der Tenor des 21. Internationalen Jahreskongresses der Automobilindustrie am 24./25. Oktober 2017 in Zwickau. Zu konkreten Herausforderungen für die Branche diskutierten rund 300 Teilnehmer, die neben Deutschland auch aus China, Indonesien, Japan, Mexiko und den USA ins Autoland Sachsen gereist waren. Organisiert wurde der Kongress von der IHK Chemnitz in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk AMZ.
Radikal, gravierend, disruptiv gehörten zu den häufig gebrauchten Attributen, mit denen die Referenten den im Gange befindlichen größten Wandel seit Erfindung des Autos beschrieben. Das Zielbild 2030plus wird bestimmt von neuer Mobilität, autonomem Fahren, Digitalisierung und Elektrifizierung, so Jan-Philipp Hasenberg von der Unternehmensberatung Roland Berger. Jedoch sei noch völlig unklar, wie die Wege dahin verlaufen und wann genau welcher Wandel einsetzt. Das bisher margenstarke Geschäft Automobil verändert sich nicht zuletzt durch die Entwicklungen zur investitionsträchtigen E-Mobilität und den Imageverlust des Diesels in Richtung eines margenschwächeren Geschäfts, betonte Hasenberg und unterstrich dass dies vielleicht die Herausforderung sei, welche die Industrie insbesondere aus deutscher Perspektive brauche. Für den gleichen Mobilitätsbedarf werden zukünftig weniger Fahrzeuge benötigt. Die Zulieferer stehen vor den Aufgaben, Kompetenzen für E-Mobilität aufzubauen und gleichzeitig Investitionen in die Verbrenner-Technologien nicht zu vernachlässigen, das Portfolio mehr auf Software und Elektronik-Komponenten auszurichten als auf Hardware, internationale Positionen speziell in China zu stärken, Szenarien zu den Herausforderungen wie E-Mobilität und autonomes Fahren zu planen und bei alldem noch flexibler und kosteneffizienter zu agieren.
Deutschland hat allen Grund zu Optimismus
Wie sich ein globaler First-Tier-Lieferant mit 100-jähriger Tradition auf die Technologietrends in der Autoindustrie einstellt, zeigte Wolfgang Sczygiol von Brose auf. Dazu gehört die stärkere Konzentration auf Elektronik-Komponenten und Software, z. B. zur Türenöffnung mittels Gesten, sowie eine deutlichere direkte Hinwendung zu den Bedürfnissen der Kunden. Die Experten für Fahrzeuginnenräume setzen bei den Themen Digitalisierung und autonomes Fahren auf die Erfahrungen aus dem Silicon Valley und haben dort 2016 ein Unternehmen gegründet, um Kunden-Lieferanten-Beziehungen zu neuen OEM’s aufzubauen, um mit den dort angesiedelten Forschungslabors gestandener OEM’s zusammenzuarbeiten und um mittels Innovations- und Technologiescouting frühzeitig zu wissen, welche Investitionen und Partnerschaften sich für das zukünftige Geschehen in der Branche anbieten. Sczygiol betonte, dass sich Deutschland nicht hinter Kalifornien zu verstecken brauche und allen Grund zu Optimismus habe. So sind 62 Prozent der Patente zum autonomen Fahren deutschen Ursprungs.
Ein Player in diesem Bereich mit hohem sächsischem Anteil ist das Engineering-Unternehmen IAV mit einem Entwicklungszentrum in Chemnitz/Stollberg. Das hochautomatisierte Fahren auf der Autobahn in Stausituationen könne zirka 2020 realisiert werden, das fahrerlose Parken zirka 2023 und hochautomatisiert fahrende Shuttle als Erweiterung des ÖPNV sollen ab 2025 Wirklichkeit werden, nannte Udo Wehner Meilensteine, an denen die IAV-Ingenieure arbeiten.
Zu den Chancen und Herausforderungen beim Einzug neuer digitaler Technologien in Produkt und Prozess, bei der Anwendung von Tools der virtuellen und erweiterten Realität sowie der Digitalisierung des Automobilhandels sprachen Vertreter von MAN Truck & Bus, N+P Informationssysteme, SICK, Fraunhofer IWU und MeinAuto.
Diesel-Diskussion: Vor zwei Jahren falsch abgebogen
Dass bewährte Technologien wie Verbrennungsmotoren noch eine Zukunft von mindestens zwei Jahrzehnten haben, betonte Prof. Dr. Thomas Koch vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hart ging er mit Politik und Medien zum Thema Diesel ins Gericht. Hier sei die Diskussion vor zwei Jahren falsch abgebogen und eine Technologie, die sicher beherrscht wird, zerredet und vielfach falsch dargestellt worden. Wenn sämtliche Pkw-Dieselfahrzeuge heute durch die modernste, bereits zu erwerbende Technologiestufe ersetzt werden würden, so betrüge an der höchstbelasteten Stelle in Deutschland, am Neckartor in Stuttgart, der Pkw-Dieselbeitrag zur Stickoxid-Immission unmittelbar an der Straße nur noch drei Mikrogramm/Kubikmeter – bei einem Grenzwert von 40 Mikrogramm/Kubikmeter. Elektroautos werden erst dann praxistauglich und ökologisch nachhaltig, wenn die notwendige Infrastruktur verfügbar ist und der Strom nicht mehr aus Kohlekraftwerken kommt.
Die sächsische Automobilindustrie mit ihren 780 Zulieferern und über 80.000 Beschäftigten hat gute Voraussetzungen, den notwendigen Strukturwandel zu meistern, unterstrich Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Dabei spielen Netzwerke wie AMZ, eine breit aufgestellte Forschung, eine strukturierte Technologieförderung und innovative Ideen für das Fahren von morgen eine wesentliche Rolle.
Transformation zur E-Mobilität bringt grundlegende Veränderungen
Den Transformationsprozess hin zur Elektromobilität der nächsten Generation beschreitet aktuell Volkswagen Sachsen, wie Prof. Dr. Siegfried Fiebig, Sprecher der Geschäftsführung, betonte. Das Werk in Zwickau bereitet sich auf die Produktion des ersten VW-E-Autos auf Basis des Modularen Elektrobaukastens vor, die Ende 2019 starten soll. In kurzen Abständen werden weitere Modelle auch anderer Konzernmarken folgen. Damit geht eine grundlegende Veränderung des Produktes Auto sowie aller Prozesse und Arbeitsinhalte zu seiner Herstellung einher.
Der Umbruch in der Automobilindustrie bringt auch völlig neue Geschäftsmodelle und Kooperation hervor, die sich u. a. in Startups manifestieren. Vom Smartphone als Dreh- und Angelpunkt des Mobilitätsbedürfnisses, dass mittlerweile zu zehn Millionen Fahrten täglich weltweit führt, die von zwei Millionen Fahrern realisiert werden, berichtete Fabian Ladda von Uber. Die Ausgründung trive.me des Engineering-Dienstleisters EDAG stellte Heiko Herchet vor. Hier wird die Expertise von gestandenen Entwicklern aus der Automobilentwicklung mit dem Spirit und Ideenreichtum von Programmierern, Designern und weiteren IT-Experten verbunden, um mit Software Autos und Autofahren noch besser zu machen. Das auf Gestensteuerung spezialisierte Startup gestigon war für den First Tier Valeo so interessant, dass es mittlerweile Teil des global agierenden Zulieferers ist, wie Anna-Charlotte Fleischmann-Kopatsch informierte. Die Kooperationen des jungen Unternehmens door2door mit OEM und ÖPNV für Mobilität auf der letzten Meile zeigte Sabrina Meyer auf.
Ohne Internationalisierung demnächst außen vor
Internationalisierungsstrategien widmeten sich weitere Sessions der Veranstaltung. Bei den Statements und Vorträgen von Jim Schellinger, Handelsminister des US-Bundesstaates Indiana, Dietmar von Polenz von Interim[4]Automotive und Markus Schmauder von der Landesbank Baden-Württemberg standen Markteinstieg und Marktchancen für die mittelständische Zulieferindustrie in den USA im Mittelpunkt. Den Stand zum elektrischen und autonomen Fahren in Japan stellte Prof. Dr. Hiroshi Shimizu vom Unternehmen e-Gle vor. Mit ihm waren rund 20 weitere Vertreter der japanischen Automobilindustrie nach Sachsen gereist, um sich auf dem Kongress sowie bei Unternehmensbesuchen über sächsisches Know-how zu informieren, Kontakte zu knüpfen und Chancen für eine Zusammenarbeit auszuloten.
Die Notwendigkeit der Internationalisierung für Sachsens Autobranche betonten auch die Gesprächspartner der Kongress-Pressekonferenz. So finde Automobilproduktion heute zu 90 Prozent im Ausland statt, sagte Dirk Vogel vom Netzwerk Automobilzulieferer Sachsen AMZ. Deshalb müssen die sächsischen Stärken bei Forschung und Technologie weiter ausgebaut werden und sich die Zulieferer damit internationaler aufstellen. Auch Gerd Wagner von der Qualitas Dienstleistungsgesellschaft Chemnitz plädierte hier für mehr Engagement seitens der Mittelständler, um beispielsweise Angebote für Unternehmerreisen wahrzunehmen und sich vor Ort in den Wachstumsmärkten Brasilien, Indien und China ein Bild zu machen. Wer hier nicht dabei ist, werde demnächst außen vor sein, prophezeite er.