Die Automobilindustrie muss aktuell einen mehrfachen Stresstest bestehen. Egal, ob Hersteller, Zulieferer, Ausrüster oder Dienstleister, alle haben drei Herausforderungen vor der Brust: den von Klimazielen getriebenen Strukturwandel zur CO2-neutralen Mobilität, die Auswirkungen der Coronakrise auf das Kaufverhalten und – für die Akteure in Deutschland – die Standortbedingungen für eine wettbewerbsfähige Produktion im Inland. Diese Themenkreise bestimmten die Diskussionen zum 24. Internationalen Jahreskongress der Automobilindustrie am 13./14. Oktober 2020 in Zwickau.
Noch nie haben so viele Anmeldungen in der Geschichte des Kongresses vorgelegen wie in diesem Jahr, verwies Dr. Dieter Pfortner, Präsident des Veranstalters IHK Chemnitz, auf den „Riesenbedarf“ nach direkten Gesprächen und Live-Treffen. Gemäß dem mit Unterstützung des Gesundheitsamtes Zwickau erstellten Hygieneschutzkonzept wurden an beiden Tagen jeweils ca. 150 Gäste begrüßt, wie Michael Stopp erklärte. Der Referatsleiter International der IHK Chemnitz organisiert den Kongress von Anfang an. Ihm zur Seite steht seit einigen Jahren Dirk Vogel. Der Manager des Netzwerks Automobilzulieferer Sachsen AMZ hatte am 13. Oktober bereits schon traditionell zur AMZ-Lounge, dem Jahrestreffen der Netzwerk-Mitglieder eingeladen und mit der Formulierung des Dreifach-Stresstests den zweitägigen Dialog eröffnet.
Einem bösen Erwachen aus dem E-Mobilitäts-Hype gegensteuern
Die Vertreter aus der Bundespolitik wie der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz und der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie, Klaus Ernst, sowie der VDA-Geschäftsführer Dr. Martin Koers betonten in einer bisher öffentlich nicht so kommunizierter Einigkeit mit den Referenten aus Wirtschaft und Wissenschaft, dass neue nachhaltige Mobilität Technologieoffenheit brauche. Alles, was der CO2-Reduzierung diene, werde gebraucht. Bislang steht hier der Eindruck, dass ohne nach links und rechts zu schauen die batterieelektrische Mobilität nach vorn gepeitscht wird. Mit dieser einseitigen Konzentration auf den Motor schlage man den Falschen, betonte Dr. Helmut Becker. Der ehemalige BMW-Volkswirt und langjährige Begleiter des sächsischen Kongresses, der für seine Aktivitäten mit der Ehrenurkunde der IHK Chemnitz ausgezeichnet wurde, plädierte dafür, die Dinge vom Kopf auf die Füße zu stellen: „Das Problem ist nicht das Aggregat, sondern der Stoff, mit dem es befeuert wird. Die Dekarbonisierung des Verkehrs gelingt nur mit nichtfossilen Brennstoffen.“ Wenn die E-Mobilität laut der ebenfalls auf dem Kongress vorgestellten Studie des Chemnitz Automotive Institute bis 2025 in Europa hochläuft, der Strom dafür aber hauptsächlich aus der Kohle kommt, dann wird es in Sachen Klimaziele „ein böses Erwachen“ geben, prognostiziert er.
Das Entweder-Oder-Denken ablegen
Auf die bisher fehlende Gesamtbetrachtung des Fahrzeuglebenszyklus beim Thema CO2-Emissionen verwies auch Prof. Dr. Thomas von Unwerth, Leiter des Instituts für Automobilforschung an der TU Chemnitz und Vorstandsvorsitzender des HZwo e. V.: „Wenn wir emissionsfrei fahren wollen, müssen wir zunächst erneuerbare Energie bereitstellen. Anderenfalls hat das mit Kohlestrom geladene E-Auto eine schlechtere CO2-Bilanz als ein moderner Diesel.“
Für ein neues Herangehen an das Thema Mobilität plädierte Prof. Dr. Gennadi Zikoridse, Direktor des Forschungsinstituts Fahrzeugtechnik an der HTW Dresden. „Wir müssen das Entweder-Oder-Denken ablegen und auch andere Technologien in Betracht ziehen.“ Die Verbrennungskraftmaschine werde noch Jahrzehnte eine Zukunft haben, wenn sie mit CO2-neutralen Kraftstoffen betrieben wird. Gebraucht wird der Mix aus E-Mobilität mit Batterie und Brennstoffzelle, Hybridisierung und modernen Verbrennungsmotoren mit synthetischen Kraftstoffen.
Das Ausbremsen synthetischer Kraftstoffe schadet auch sozial
Dass synthetische Kraftstoffe derzeit von der Politik und Gesetzgebung ausgebremst werden, habe weitreichende gesellschaftliche Folgen, betonte Prof. Dr. Thomas Koch, Leiter des Instituts für Kolbenmaschinen am Karlsruher Institut für Technologie KIT. Damit werde der individuellen Mobilität für den kleinen Geldbeutel ein Riegel vorgeschoben. Fachleute bei den Automobilherstellern sehen durchaus die Vorteile solcher eFuels, die sofort als Beimischung für die bestehende Antriebstechnologie und das Tankstellennetz genutzt werden können und außerdem zum Erhalt von Arbeitsplätzen in der Branche beitragen. Jedoch sei das gesprochene Wort der Autoindustrie pro E-Mobilität nicht unbedingt das gedachte, weil man keine Compliance-Regeln verletzen wolle. Hier braucht es jedoch Ehrlichkeit, so Koch.
Dass es für die Produktion von synthetischen Kraftstoffen bereits eine marktfähige Lösung gibt, zeigte Dr. René Stahlschmidt, Vertriebsleiter der CAC Chemieanlagenbau Chemnitz GmbH, auf. In einer Pilotanlage hat das Unternehmen 2019 bereits 16.000 Liter „grünes“ Benzin hergestellt, das in Flottenversuchen seine Tauglichkeit bewies. In diesem Jahr werden es 300.000 Liter sein. Dr. Stahlschmidt rechnete vor, dass für die 15 Milliarden Euro, die deutschen OEM 2021 theoretisch als Strafzahlungen drohen, wenn sie die europäischen CO2-Flottenziele nicht erreichen, 13 Anlagen gebaut werden können. Damit lässt sich etwa ein Fünftel des Kraftstoffbedarfs in Deutschland ohne Investitionen in Lade- sowie weitere Infrastrukturen klimaneutral herstellen.
Mit Home Office ist Produktionsstandort Deutschland nicht zu retten
Gründe für die offensichtliche Schieflage zwischen technisch sinnvoll Machbarem und den aktuell eingeschlagenen Wegen liegen nicht zuletzt in den von der Europa- und Bundespolitik verursachten Gesetzgebungen und weiteren Regularien. Signale wie ein Home-Office-Gesetz sind für den Produktionsstandort Deutschland alles andere als förderlich. Unternehmen müssen jetzt Geld verdienen und können sich nicht in Zukunftsszenarien ergehen. Dafür brauchen sie verlässliche wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen beispielsweise zur Flexibilisierung der Arbeit in der Produktion, die sich an Marktschwankungen anpasst. Home Office helfe da in keiner Weise, war ein Tenor in der Diskussion zur AMZ-Mitgliederlounge. In anderen Ländern sei man bei Arbeitszeitregelungen deutlich flexibler, Deutschland müsse aufpassen, dass hier der Bogen von den Sozialpartnern nicht überspannt wird. Die Gesellschaft muss erkennen, dass nur mit hoher Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft bisherige Standards zu halten sind. „Wer ernsthaft über die Abschaffung der Nachtschicht nachdenke, der müsse auch die Folgen tragen“, so ein Tenor aus der Diskussion.
Falsche Signale aus Politik und Gesetzgebung
Weitere falsche Signale aus der Politik heißen Lieferkettengesetz und Brennstoffemissionshandelsgesetz. In der globalen automobilen Lieferkette gebe es für die Beteiligten bereits zahlreiche Auflagen und Regularien, ohne deren Erfüllung kein Auftrag erteilt wird. AMZ-Mitglieder befürchten hier eine mit viel bürokratischem Aufwand betriebene Überregulierung deutscher Art. Der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz verwies darauf, dass die Ausgestaltung dieses Gesetzes sicher noch zu konkretisieren sei. Er plädiere für eine europaweit einheitliche Regelung, ohne ein Vorpreschen Deutschlands. Sicher ist jedoch, dass es ein solches Gesetz noch in dieser Legislaturperiode geben wird, so Wanderwitz.
Bereits beschlossen ist das Brennstoffemissionshandelsgesetz, das ab 1. Januar 2021 in Kraft tritt und CO2-Emissionen gestaffelt gepreist. Es soll Anreize für Investitionen in umweltfreundliche Technologien schaffen. Max Jankowsky, Geschäftsführer der GL Gießerei Lößnitz GmbH, betreibt die erste klimaneutrale Eisengießerei Deutschlands. Der jährliche CO2-Ausstoß wird mit dem Erwerb von Zertifikaten kompensiert. Dieses Geld fließt in konkrete Umweltprojekte. Bei den auf Gesetzesbasis eingesammelten Mittel befürchtet er, dass der Bund damit Konzerne für den Ausstieg aus der Kohleverstromung entschädigt und die angestrebte Wirkung verpufft. Ebenso werde dieser deutsche Alleingang dazu führen, dass gerade deutsche Kunden aus der Automobilindustrie zukünftig günstiger im europäischen Ausland einkaufen, dort, wo nicht diese zusätzlichen Gelder aufgebracht werden müssen.
Der automobile Strukturwandel in Sachsen muss gleiche Priorität wie Kohle-Thema erhalten
Das Thema offenbart auch den Riss, der sich beim Thema Strukturwandel durch Branchen und Regionen zieht. Die IHK Chemnitz und die Wirtschaftsförderer von Chemnitz sowie der Landkreise Erzgebirge, Mittelsachsen, Vogtland und Zwickau fordern in einem Partnermemorandum vom Freistaat Sachsen, dass der Strukturwandel in der automobilen Kernregion Südwestsachsen prinzipiell gleichrangig mit der Transformation der Kohlereviere zu stellen ist. In Südwestsachsen, dem „Herz“ der sächsischen Automobilindustrie stehen aufgrund der gravierenden Veränderungen rund 25.000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Hinzu kommen nochmals etwa 5.000 bis 6.000 bei Ausrüstern aus dem Maschinen- und Anlagenbau. In den sächsischen Kohlerevieren sind unmittelbar etwa 10.700 Arbeitsplätze gefährdet.
Die Initiatoren des Memorandums unter federführender Koordination der IHK Chemnitz fordern eine Strategie zur Abfederung und Begleitung des Strukturwandels mit Fokus auf die Wirtschaftsregion Chemnitz. Auch soll die strukturelle und industriepolitische Verzahnung der beiden Strukturwandelszenarien Kohle und Automotive/Maschinenbau über die Förderung resilienter Wertschöpfungsstrukturen und integrierter Produktionsnetzwerke priorisiert werden.