In Zeiten, in denen Prognosen zum Transformationsprozess in der Automobilindustrie meist als Horrorszenarien zu Arbeitsplatzverlusten und sehr einseitig betrachtet in die Medien kommen, hat das Chemnitz Automotive Institute (CATI), ein Bereich der TUCed An-Institut für Transfer und Weiterbildung GmbH, konkrete Analysen zur Branchenentwicklung in Sachsen und Thüringen vorgelegt. Für „Autoland Sachsen“ erläutert das CATI-Direktoriumsmitglied, Prof. Dr. Werner Olle, Herangehensweisen, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der Studien.
Herr Professor Olle, was kommt auf die Automotive-Branche in Sachsen und Thüringen zu?
Auf jeden Fall keine Katastrophenszenarien. Viele Studien betrachten ausschließlich das Thema E-Mobilität. Doch mit dem prognostizierten weltweiten Wachstum bei elektrischen Antrieben bis 2030 geht auch die Fertigung von Verbrennungsmotoren mindestens auf dem Niveau von heute weiter, natürlich deutlich innovativer, beispielsweise als Hybrid-Aggregate. In diesem Bereich wird es Arbeitsplatzeinbußen geben, aber bei weitem nicht in fünfstelliger Größenordnung wie jüngst für Thüringen prognostiziert. Aktuell beobachten wir sogar einen Kapazitätsausbau für klassische Antriebs- und Fahrwerkkomponenten. Zeitgleich eröffnen sich eine Fülle neuer Chancen in den Segmenten Karosserie, Interieur und Elektrik/Elektronik. Leichtbau, neue Materialien und Funktionalitäten im Innenraum, automatisiertes und vernetztes Fahren heißen hier wesentliche Treiber.
Was unterscheidet Ihr Herangehen von dem anderer Studien-Verfasser?
Wir setzen auf empirisch belastbare Ergebnisse. 2016 haben wir im Auftrag des sächsischen Wirtschaftsministeriums in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk AMZ die sächsische Studie durchgeführt. Basis waren Daten und Gesprächsinformationen von mehr als 200 Unternehmen in den vier Produktfeldern Antrieb/Fahrwerk, Karosserie, Interieur und Elektrik/Elektronik. Innerhalb dieser Felder haben wir eine Differenzierung nach 40 Technologiemerkmalen vorgenommen und den Unternehmensdaten zugeordnet. Damit konnten wir pro Bereich Verteilungsmuster identifizieren, deren Ausprägung mit der Beschäftigtenzahl je Unternehmen, Produktfeld und Trendkategorie gewichtet wurde. Nach diesem Muster sind wir auch bei der Thüringen-Studie vorgegangen, bei der wir im Auftrag der LEG in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk automotive thüringen Daten von 170 Unternehmen ausgewertet haben. Neben 70 Expertengesprächen haben wir hier zusätzlich das Gespräch mit Betriebsräten und Gewerkschaftern gesucht. Beide Studien fußen damit auf einer repräsentativen Datenbasis.
Gibt es eine Haupterkenntnis aus beiden Analysen?
Ja, die gibt es. Sie lautet, der Transformationsprozess bietet in beiden Bundesländern mehr Chancen als Risiken. Der sich abzeichnende Verlust von Arbeitsplätzen im Bereich Antrieb/Fahrwerk kann durch die anderen Produktfelder mehr als aufgefangen werden. Das erfordert jedoch ein zügiges, aktives, zielorientiertes Handeln nicht nur auf Seiten der Wirtschaft, sondern genauso von der Politik und den Sozialpartnern. Der automobile Strukturwandel ist kein Selbstläufer und kann nur gemeinsam bewältigt werden.
Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede haben Sie zwischen Sachsen und Thüringen festgestellt?
Sachsen hat den Vorteil, dass hier drei OEM mit mehreren Werken vor Ort sind, die sich intensiver mit der Wertschöpfung in der Region vernetzt haben. In beiden Ländern dominieren mittelständische Firmen, deren Zentralen zumeist woanders beheimatet sind. Das wird speziell in Thüringen kritisch gesehen, aber eine solche Konstellation bietet Zugang zu Ressourcen, Technologien und Märkten und hat in einigen Fällen sogar die Entwicklung hiesiger Standorte zu Technologieführern auf ihrem Produktfeld und zum Leadunternehmen im Firmenverbund befördert. Sachsen hat beispielsweise Know-how im Strukturleichtbau, bei Brennstoffzellensystemen, in der Sensorik und Softwareentwicklung. Thüringens Stärke liegt zweifelsohne in der Optik und Photonik als wesentlichen Technologien für das „sehende“ Auto sowie bei smarten Materialien und Funktionalitäten im Interieur. Die jeweiligen Kompetenzen zu bündeln, Kooperationen für den Aufbau von Systemkompetenz zu verstärken und nicht alle Technologien mit öffentlichen Mitteln an allen Orten zu installieren, ist eine Empfehlung aus beiden Studien.
Was ist nach Vorlage der Studien passiert?
In Thüringen ist unsere Arbeit zeitgleich mit dem „Branchendialog Automobil“ gestartet, in den wir neben Wirtschaft, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden aktiv einbezogen waren. Das hat unsere Arbeit sehr befördert. Unmittelbar nach Fertigstellung der Tiefenanalyse sind die Ergebnisse in eine „Automotive Agenda“ eingeflossen, die wichtige Handlungsfelder für Wirtschaft und Politik in Thüringen und erste konkrete Maßnahmen umfasst. Dazu gehören eine Ansiedlungsoffensive in automobilen Wachstumsfeldern, eine stärkere Unterstützung für Zukunftstechnologien und ein kontinuierliches Branchenmonitoring.
Aus den Ergebnissen der Sachsen-Studie ist u. a. das Projekt Auto_ID hervorgegangen, bei dem die Qualifizierung und Kompetenzentwicklung für neue Aufgaben mit neuen Formen des Lernens und Wissenstransfers verbunden wird. Aktuell untersuchen wir gemeinsam mit AMZ die Auswirkungen der Elektromobilität auf Produktportfolio und Wertschöpfung sächsischer Zulieferer.
Wir schauen auch über den Tellerrand und sehen, dass ein automobiler Vorzeigestandort wie Baden-Württemberg einen interministeriellen Strategiedialog angestoßen hat, um weiter ein Vorreiter in der Branche zu sein. Ein solches konzertiertes Vorgehen von Wirtschaft, Politik und Sozialpartnern ist sicher auch von Vorteil für die Zukunft des Autolandes Sachsen.