Sachsens wirtschaftlicher Erfolg fußt wesentlich auf der industriellen Entwicklung vergangener Jahrhunderte, die mit dem Bergbau begann und über Metall-, Textil- und Holzbearbeitung zu heutigen Schlüsselbranchen wie Fahrzeug- und Maschinenbau führt. Diesem komplexen Thema widmet sich bis zum 31. Dezember 2020 die 4. Sächsische Landesausstellung unter dem Titel „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“. Angesiedelt ist sie in der Region Freiberg-Chemnitz-Zwickau, dem industriellen Herz Sachsens. Neben der Zentralausstellung im Audi-Bau in Zwickau lädt gleich nebenan das August Horch Museum zur Sonderschau „AutoBoom“ ein.
Das Besondere an diesem Konzept: Es wird weniger die Vergangenheit, sondern vor allem die Gegenwart und Zukunft der Auto-Mobilität anhand der vielfältigen sächsischen Kompetenzen in diesem Bereich thematisiert. Dabei erreichen beispielsweise Entwicklungen der sächsischen Leichtbau-Forschung ein Publikum, das diese Spitzenleistungen mangels Öffentlichkeit sonst kaum wahrnehmen kann. Nicht jedem gefällt diese Präsentation aktueller Wissenschafts- und Wirtschaftskompetenz, war in den ersten Ausstellungstagen zu erfahren. Zugegebenermaßen wirken die gezeigten Exponate mitunter zusammenhangslos aneinandergedrängt und losgelöst von Bebilderungen und Beschreibungen an den Wandtafeln. Ob angesichts des Boom-Mottos gewollt oder nicht – es ist auf jeden Fall ein Bruch zur übersichtlichen, mit viel Raum für jedes Exponat und ansprechenden Szenen gestalteten Dauerausstellung des Horch Museums. Die Rückschau auf Sachsens Automobilhistorie mit den Marken Horch, Audi, DKW, Wanderer, später Trabant sowie auch schon 30 Jahre VW erlebt der Besucher, bevor er zur Sonderschau geführt wird. AutoBoom nimmt ihn dann mit auf eine dreigeteilte, extrem gestraffte Zeitreise, die nochmals kurz den Abschnitt von 1900 bis 2000 streift, ausführlicher im Heute zwischen 2000 und 2025 verweilt und schließlich den Blick über 2025 hinaus wagt.
Was von Visionen aus den 1970er Jahren bleibt
Gleich am Anfang der 630 Quadratmeter großen Exposition wird der Besucher mit den verschiedensten Visionen von Mobilität konfrontiert. In einem Wimmelbild sind die Erwartungen und Träume aus unterschiedlichen Jahrzehnten dazu versteckt. Wer zum Beispiel die Beschreibung zu Bild 8 mit startenden Raketen, fliegenden Taxen und autonom fahrenden Autos in einer Hochhausstadt mit mehrstöckig verschlungenen Straßen aufklappt, erfährt, dass das im Jahr 1976 eine Vorstellung vom heutigen Münchner Stadtbild war. Jeder kann sich selbst vor Augen führen, was davon Wirklichkeit geworden ist.
Kopf-an-Kopf-Rennen der Antriebsarten bereits um 1900
Danach passiert der Besucher den ersten Zeittunnel. Das Pferdegespann erinnert daran, dass sich die ersten Automobile aus dem Kutschenbau entwickelten. Der Nachbau des ersten deutschen vierrädrigen batterieelektrischen Wagens des Maschinenfabrikanten Andreas Flocken aus dem Jahr 1888, das Modell des 1887 vom Chemnitzer Hermann Michaelis gebauten Dampfbusses sowie der erste in Zwickau gebaute Horch-Wagen von 1904 zeigen auf, dass es bereits um 1900 ein Kopf-an-Kopf-Rennen der verschiedenen Antriebsarten gab. Wir wissen, dass sich der Verbrennungsmotor durchsetzte. Eine kontinuierliche Verbesserung von Leistung und Wirkungsgrad sowie die Verfügbarkeit von Kraftstoff durch damals günstiges Erdöl trugen dazu bei. Umweltschutzgedanken spielten bei unseren Altvorderen keine Rolle. Killerkriterien für den Dampf- und den Elektrowagen waren u. a. die lange Aufwärmzeit des Dampfkessels sowie die geringe Reichweite und die fehlenden Lademöglichkeiten für die schwere Batterie. Die Bedeutung des Horch 14-17 PS von 1904 geht in der Sonderschau leider etwas unter, denn mit diesem Fahrzeug begann der Automobilbau in Zwickau. Es ist dem Förderverein des Horch Museums zu verdanken, dass dieser originalgetreue Nachbau, der auf einem historischen Foto, einem Verkaufskatalog von 1904/05 sowie drei Konstruktionszeichnungen des fast baugleichen Nachfolgetyps basiert, in unzähligen ehrenamtlichen Stunden auf die Räder gestellt wurde.
Elektromobilität 1.0 aus Sachsen
Das Thema Elektromobilität stand bereits in den 1990er Jahren in Ostdeutschland wieder auf die Tagesordnung. Die Firma Trapos aus Mittweida kam 1996 mit dem E-Konzeptfahrzeug SAXI, eine Wortschöpfung aus Sachsen und Taxi, zur Automobilausstellung AMI nach Leipzig. In dieser Zeit präsentierte die Sachsenring Automobiltechnik das Hybridfahrzeug Uni 1 als Taxi-, Van- und Pickup-Variante.
Parallel zu den im Konzeptstadium steckengebliebenen Fahrzeugexponaten gibt es noch einen kleinen Exkurs über die Veränderungen in der Arbeitswelt, angefangen von der Handarbeit in Manufakturen über die Einführung des Fließbandes bis hin zur Robotertechnik, die ab den 1980er Jahren auch im DDR-Fahrzeugbau zu finden war. So schweißten z. B. Industrieroboter die Trabant-Gerippe.
Sachsen – Top-Autostandort in Deutschland
Der zweite Zeitsprung befördert den Besucher in die Jahre 2000 bis 2025. Die in Sachsen ansässigen Auto-Werke, die Automobilzulieferer, Entwickler, Ausrüster und weiteren Dienstleister der Branche erlebten seit 2000 ein rasantes Wachstum und machten den Freistaat neben Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen zu einem Top-Automobilstandort in Deutschland. Bei alternativen Antrieben wie Batterie oder Brennstoffzelle, beim autonomen Fahren, bei Leichtbau und ressourcenschonender Produktion gehört Sachsen zu den Vorreitern. Davon zeugen Exponate wie der Elektro-Trabant nT von IndiKar, das InEco-Leichtbau-Konzeptauto vom Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik (ILK) der TU Dresden und Thyssenkrupp, die brennstoffzellenbetriebene EcoBee des TU-Chemnitz-Teams Fortis Saxonia, die mit der Energie eines Liters Benzin 270 Kilometer fährt, der Audi R8 e-tron, den die Fachleute der Zwickauer FES mit entwickelt haben, oder der Gläserne Demonstrator des Bundesexzellenzclusters MERGE, der insbesondere das an der TU Chemnitz vorhandene Leichtbau-Know-how aufzeigt. Für die Automobilzulieferer präsentiert Dräxlmaier eine Türinnenverkleidung, die u. a. aus nachwachsenden Rohstoffen besteht. Ebenso wird der 25 Kilogramm schwere und 500 Meter lange Kabelsatz eines Porsche Macan in Anlehnung an den Kabelbaum-Begriff in Form eines Baumes vorgestellt.
Zum InEco-Auto hätten übrigens noch gut ein CFK-Leichtbaurad als Einzelexponat und der Hinweis gepasst, dass diese innovativen Felgen bei thyssenkrupp Carbon Components in Kesselsdorf bei Dresden hergestellt werden. Das Unternehmen entstand 2012 aus der ILK-Entwicklung und hat als weltweit erster Produzent die Straßenzulassung für die geflochtenen Carbon-Felgen erhalten.
Elektromobilität 2.0 aus Sachsen
Für die bereits existierende Elektromobilität 2.0 aus Sachsen stehen die BMW-Fahrzeuge i3 und i8, die Hybrid-Porsche Macan und Panamera, der e-Golf sowie der ID.3. Dessen Chassis, der Modulare Elektrifizierungs-Baukasten (MEB), ist Basis für die neuen vollelektrischen VW-Fahrzeuge, deren Produktion im November 2019 in Zwickau startete. Nach einer Studie des Netzwerks Automobilzulieferer Sachsen AMZ und des Chemnitz Automotive Institute CATI wird 2025 jedes vierte in Deutschland gefertigte E-Fahrzeug aus sächsischer Produktion kommen.
Hand in Hand mit dem Roboter arbeiten
Die mit dem Terminus Industrie 4.0 verbundene fortschreitende Vernetzung der Produktion und Veränderung der Arbeitswelt mittels Automatisierung und Digitalisierung kann der Besucher selbst im Zusammenspiel mit einen kleinen kollaborativen Roboter, einen Cobot, ausprobieren. Dafür erhält er eine beidseitig grün eloxierte Aluplakette, die er direkt in den Greifer legt. Der Roboter nimmt die Plakette, dreht sich der Laserstation zu und legt sie dort ein. Nach Bearbeitung erhält der Besucher die Plakette mit einer Gravur und dem tagesaktuellen Datum von der Maschine zurück. Um den Vorgang der Lasergravur und die notwenige Zeit für den Besucher nicht langweilig werden zu lassen, wird der technologische Vorgang per Kamera über ein Display übertragen. Ohne Schutzvorrichtung kann man die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine ausprobieren.
Noch viel Arbeit für individuelle und nachhaltige Mobilität
Der dritte Zeittunnel führt den Besucher ins Morgen. Hier kommen mit Konzepten für das autonome Fahren oder das fliegende Auto wieder ähnliche Visionen wie am Anfang der Schau ins Spiel. Mittlerweile sind sie jedoch deutlich realer geworden. Das ILK und die Professur Technisches Design der TU Dresden stellen mit TRACE eine autonom fahrende, multimodale Plattform als neue individuelle, flexible und effiziente Transportlösung vor. Das hochautomatisierte System soll Menschen in persönlichen Kabinen über kurze Distanzen wie auch auf Fernreisen transportieren sowie Autos, Staus in Innenstädten und Parkplatzsuche weitgehend überflüssig machen.
Viele innovative Ansätze für emissionsfreie Mobilität im urbanen Raum enthält auch das Modell des Konzeptfahrzeugs ColibrE 4E von Studenten der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Für die angehenden Autoentwickler waren gerade Themen wie Parkplatzmangel, die Besonderheiten des Stadtverkehrs oder der Warentransport Herausforderungen, die sie mit dem ColibrE 4E angehen wollten. Die Namens-Analogie zum Vogel Kolibri soll dabei die Nähe zur Natur und die damit gegebene ökologische Verantwortung für die Mobilität der Zukunft symbolisieren, der Zusatz 4E steht für den Antrieb des Fahrzeuges über vier elektrisch betriebene Radnabenmotoren.
Die Lösungsansätze zeigen, dass neben Entwicklungs- auch noch jede Menge Überzeugungsarbeit notwendig ist, um die mehrheitlich geschätzte individuelle Mobilität des Autos mit bestmöglicher Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu verbinden.
Weitere Boom-Plätze der Landesausstellung
Neben der Zentralausstellung im Audi-Bau in Zwickau und der AutoBoom-Schau im August Horch Museum Zwickau finden weitere Ausstellungen an authentischen Schauplätzen der sächsischen Industriegeschichte statt, die jeweils eine bedeutsame Branche in Vergangenheit, Gegenwart und naher Zukunft thematisieren: MaschinenBoom im Industriemuseum Chemnitz, EisenbahnBoom am Schauplatz Eisenbahn Chemnitz-Hilbersdorf, KohleBoom im Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, TextilBoom in der Tuchfabrik Gebr. Pfau Crimmitschau und SilberBoom im Forschungs- & Lehrbergwerk „Reiche Zeche“ Freiberg. Damit setzt erstmals eine Sächsische Landesausstellung auf ein dezentrales Konzept.