Wird die Region Chemnitz bei einer entscheidenden Weichenstellung schon wieder abgehängt? Der Eindruck entsteht beim Blick auf die derzeitigen Planungen zum bundesweiten Wasserstoff-Kernnetz. Unternehmen und Kommunalvertreter aus Südwestsachsen fordern Korrekturen, die der Bedeutung der Region in der Wasserstoffwirtschaft gerecht werden.
Am 12. Juli legten die Betreiber von Gasfernpipelines ihre Pläne für das deutsche Wasserstoff-Kernnetz vor. 12.000 Kilometer Leitungen sollen bis 2032 entstehen. Der Großteil davon durch das Umwidmen von Erdgasleitungen, dazu kommen Neubauprojekte. Transportieren sollen sie möglichst grünen Wasserstoff. Eine Trasse aus westlicher Richtung endet bei Zwickau. Zudem streift die bisherige Opal-Erdgasleitung Mittelsachsen und das Osterzgebirge. Dazwischen befindet sich ein großer weißer Fleck.
„Absurdes Schauspiel“
Für den Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze ist das ein „absurdes Schauspiel“. In Chemnitz entsteht eines der vier nationalen Wasserstoff-Zentren Deutschlands, das einzige in Ostdeutschland. „Es wäre deshalb fatal, wenn dieser Standort der Hochtechnologie nicht durch das geplante Wasserstoff-Kernnetz mit dem Energieträger der Zukunft versorgt werden würde. Zudem stellt die Entscheidung die Weichen für die künftige Entwicklung einer ganzen Region“, sagt Schulze und ergänzt: „Die Region darf nicht – wie in der Vergangenheit beim Fernbahnverkehr – von der Transformation der Energieversorgung abgekoppelt werden.“
Alternativloser Energieträger
Eines von vielen Unternehmen, dessen zukünftige Ausrichtung wesentlich von der Verfügbarkeit klimaneutralen Wasserstoffs abhängt, ist das Auerhammer Metallwerk Aue-Bad Schlema. Der international erfolgreiche Produzent von Metallhalbzeugen deckt seinen Energiebedarf aus Strom und Gas. Pro Jahr sind das rund 17 GWh, davon etwa 9 GWh Gas. Dazu kommen rund 300.000 Kubikmeter Wasserstoff als Prozessgas. Deren Anlieferung erfolgt aktuell per Lkw. Der Ersatz von Erdgas durch Wasserstoff sei „überlebenswichtig“, betont Geschäftsführer Dr. Robert Krumbach. Kunden erwarten, dass sich das Unternehmen nachhaltig aufstellt und klimaneutral arbeitet. Alles auf Strom umzustellen, funktioniere nicht. Die leitungsgebundene Versorgung mit Wasserstoff sei alternativlos. Eine Anlieferung der jährlichen Mengen von 10 bis 15 GWh per Straße wäre kontraproduktiv zum gewollten Klimaschutz.
Auch Vitesco Technologies in Limbach-Oberfrohna setzt auf Wasserstoff. Im Werk läuft seit drei Jahren die Transformation von der Dieselinjektoren-Fertigung hin zur Elektrolyseur-Produktion. Werkleiter Dr. Carsten Czenkusch verweist auf den Zusammenhang zwischen Wasserstoff-Netz und Standortsicherung. Je stärker sich Südwestsachsen in Richtung Wasserstoff stärke, desto mehr Aufträge könne man in die Region bekommen.
Verteilnetz schnell umstellbar
Künftig hohe Bedarfe an grünem Wasserstoff sieht der Energiedienstleister Eins für seine Chemnitzer Motoren-Heizkraftwerke. Damit ersetzt der Versorger ab Jahresende 2023 jährlich rund eine Million Tonnen Braunkohle durch Erdgas. Bereits jetzt lassen sich 20 Prozent Wasserstoff zumischen, erklärt Eins-Geschäftsführer Roland Warner. Mit der nächsten Motorengeneration ab den 2030er Jahren ist grüner Wasserstoff zu 100 Prozent einsetzbar. Die Eins-Tochtergesellschaft Inetz versorgt zudem mit einem Verteilnetz von rund 7.300 Kilometern die Region mit Erdgas und kann dieses Netz relativ schnell auf Wasserstoff umstellen. Der Knackpunkt: Zuerst ist der Anschluss ans Kernnetz notwendig, über das der Wasserstoff, importiert auf dem Seeweg oder hergestellt in meeresnahen Elektrolysestationen, in die Region kommt.
Zahlreiche weitere Unternehmen haben ihre Wasserstoff-Bedarfe für den Dekarbonisierungs-Prozess dargelegt. Sie unterstützen damit das Eckpunktepapier der IHK Chemnitz, der Stadt Chemnitz, des Clusters HZwo und des Energieversorgers Eins. Die Region verfügt über starke Kompetenzen in Wasserstofftechnologien, sagt IHK-Präsident Max Jankowsky. Er betont: „Wir wollen das Thema als zukunftsweisenden Teil unserer regionalen DNA verwurzeln. Wir wollen als Wasserstoff-Region nicht nur wahr, sondern ernst genommen werden. Jetzt haben wir die Chance, von Anfang dabei zu sein. Diese müssen wir konsequent nutzen.“
Signal an die Landesregierung: Mit einer Stimme sprechen
Das ist auch ein Signal in Richtung Landesregierung, mit einer Stimme für ganz Sachsen zu sprechen. Wirtschaftsminister Martin Dulig hatte in einem Statement zum ersten Planungsstand des Kernnetzes am 12. Juli mitgeteilt, er freue sich, dass dabei auch zwei Leitungen auf sächsischem Gebiet vorgesehen seien und die Versorgung wichtiger Industriestandorte im Freistaat berücksichtigen. Sein Amtskollege, Energieminister Wolfram Günther, forderte am gleichen Tag dagegen eine Ausdehnung des Netzes. Er bemängelte das Fehlen von Chemnitz, Dresden und der Lausitz in den Planungen als Standorte mit wichtigen energieintensiven Betrieben bzw. künftigen wasserstofffähigen Kraftwerken. „Das werden wir in unserer Stellungnahme…nochmals aufrufen“, betonte er.
Nach Interventionen insbesondere aus Südwestsachsen ist auch der Wirtschaftsminister auf diesen Kurs eingeschwenkt. Der Freistaat setze sich beim Bund dafür ein, dass auch die Region Chemnitz-Zwickau einen Anschluss an die Wasserstoffautobahn erhalte und fordere entsprechende Nachbesserungen ein. „Dies gilt gerade für Chemnitz als Standort des künftigen Nationalen Innovations- und Technologiezentrums Wasserstoff und Sitz des Netzwerks HZwo e.V. Ebenso sprechen wir uns für den Anschluss des Industriebogens Meißen, der (Chip-)Industrie in Dresden und Freiberg sowie der Kraftwerksstandorte in der Lausitz und großer kommunaler Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung, so auch in Chemnitz, aus“, betonte Dulig im Statement vom 21. Juli.
Entscheidungen sollen Anfang 2024 fallen
Bis zum 28. Juli haben Netzbetreiber und weitere Anspruchsgruppen noch Zeit, Stellung zu den vorgelegten Plänen nehmen und Korrekturen zu fordern. Anfang 2024 will die Bundesregierung Entscheidungen zum Netzverlauf treffen. Die Akteure aus der Chemnitzer Region sind nicht die einzigen, die um den Anschluss kämpfen.